Niemand ist schuld!

Ich weiß, ich weiß. Niemand ist Schuld an meiner Situation. Alles ist nur ein unglückliches Zusammenfallen vieler Zufälle. Da niemand sonst Schuld haben kann, muss ich also selbst schuld sein. Aber mal ehrlich, wie viel Schuld habe ich mir zu Schulden kommen lassen, als dass es immer nur rückwärts oder zum Stillstand kommt, aber nie wieder irgendwo einmal nach vorne?

1986, ein Jahr in dem ein überdurchschnittlich guter Hauptschüler seinen Abschluss in der Tasche hat und sich entschließt weiterhin die Schule zu besuchen und seine mittlere Reife zu machen. Die 2 Jahre vergehen relativ schnell, wenn auch nicht ohne Tränen, denn jener junge Schüler musste feststellen, dass einem die Zensuren eben nicht immer nur so zugeflogen kommen, wie noch auf der Hauptschule. Aber Mitte 1988 hielt er den Abschluss in den Händen und konnte gut Lachen.

Doch wie sollte es ab hier weiter gehen? Bei der Berufsberatung war man der Meinung, er solle erst einmal einen Beruf lernen, um einen Titel zu haben, danach könne er ja immer noch auf seinen Wunschberuf umlernen. Nur, Lehrstellen in Wunschberufen waren damals schon knapp und im Bereich EDV gab es Anno dazu mal wirklich nur den DV-Kaufmann, der aber in unserer Heimatgegend nirgends angeboten wurde. Also ließ sich der junge Mann überzeugen und bewarb sich auf Plätze die im Angebot lagen.

Eine kleine Werkstatt wollte sich vergrößern und brauchte dafür noch einen Tresendienst. So unterschrieb der Junge einen Ausbildungsvertrag über 3 Jahre zum Bürokaufmann. Niemand hatte ihm oder seinem künftigen Chef gesagt, dass er nur hätte 2 Jahre lernen müssen, auf Grund der Handelsschule.

Nichts desto trotz machte die Arbeit oft Spaß und der junge Mann fühlte sich geborgen und akzeptiert zwischen Chef und Kollegen. Leider blieb der geschäftliche Erfolg der Unternehmung aus und musste schließlich nach 2 Jahren verkauft werden. Alle Auszubildenden wurden in die neue Firma übernommen, mit einer Ausnahme! Der Junge durfte gehen, denn zwei Bürokaufmann-Auszubildende seien zuviel.

So suchte er schließlich nach jemanden, der ihm die Möglichkeit gab, das letzte Jahr abzuschließen. Er fand glücklicherweise auch eine Firma. Trotz familiärer Anbindung war die Atmosphäre aber eher kühl, denn hier wurde er zu den letzten Arbeiten herangezogen. Er musste Motorräder bei Kunden abholen, Teileregale im Hühnerstall aufbauen und Müll zur Verwertung bringen. Nichts war dem Chef recht, nichts hat ihn je mal zufrieden gestellt, alles ging ihm zu langsam. Sein Bedürfnis war es den Jungen dazu zu bringen Autos zu verkaufen, so wie er es selbst tat. Aber der Junge wollte kein Pferdehändler werden. Der Körper wehrte sich allmorgendlich immer mehr. Der Junge wollte sich lieber eine Treppe runterstürzen als die Hallen der Firma betreten zu müssen, hoffte jeden Morgen auf einen Unfall.

Schließlich reagierte der Körper und spielte den Jungen ins Aus. Nach der Kündigung und anschließendem Prozess vor der Schiedsstelle wurde dem Jungen gewährt seine Ausbildung über den Schulweg zu beenden. Als er dann 1991 seinen Abschluss machte war es sicherlich ein Erfolg, aber wirklich greifbar war dieser nicht. Die psychische Krankheit hatte so sehr Besitz von dem Körper ergriffen, dass er klinisch behandelt werden musste. Er musste für drei Monate in eine Spezialklinik, in der man ihn gut genug wieder aufbauen konnte, dass er seinen Lebensmut wieder neu fassen konnte.

Als er von dort zurückkam, hatte er endlich den Mut sich zu bewerben und auch beim Arbeitsamt nachzufragen, welche Möglichkeiten einer Umschulung es gäbe, schließlich hatte er den Bürokaufmann nur auf Geheiß seines Beraters hin gelernt. Aber da sagte man ihm er hätte Bürokaufmann gelernt und somit einen Beruf den er ausführen könne. Leicht hinters Licht geführt machte er sich auf die Suche nach einer Stelle.

1992 fand er nach einigen kleinen Überbrückungsjobs auch eine Arbeit in der Buchhaltung einer großen Genossenschaft. Schnell fand er seine Kollegenfamilie, fühlte sich wohl und tat alles um sich aktiv an der Familie zu beteiligen. Auch beim Gehalt tat sich innerhalb weniger Jahre sehr viel, so dass er trotz seiner jungen Jahre verhältnismäßig gut verdiente. 1995 wurde er schließlich in den Betriebsrat gewählt und fand damit noch ein wenig mehr Sicherheit in seiner Person. Alles war schön! Aber was kam dann?

Die Sehkraft ließ immer weiter nach und legte sich natürlich immer weiter auf die Arbeitsgeschwindigkeit nieder. Nachdem schnell klar war, dass eine Brille nichts nützen würde, musste er viel Zeit dafür aufbringen nach Hamburg zu einer Spezialpraxis zu fahren, die ihm Kontaktlinsen anpassen sollten. Die Verträglichkeit der Linsen besserte sich im Laufe der Zeit aber nicht, so dass ein dauerhaftes Tragen der Linsen nicht möglich war. Zeitgleich steigerten sich die Ausfälle durch Migräne.

Letztlich beriet ihn ein Augenarzt, dass man dieses Dilemma am ehesten durch eine Hornhautverpflanzung in den Griff bekommen könne. Als der OP-Termin plötzlich fest stand war die Welt immer noch in Ordnung. Nie hätte der Twen gedacht, dass sich alles ab hier nur noch nach unten entwickeln würde.

Die OP verlief sehr zur Zufriedenheit der Ärzte und nach einer Woche war der Junge auch wieder zu Hause. Was ab hier folgte, war eine Menge Pflege und Ruhe, vier Wochen im Schnitt, wie man ihm sagte. Aber dann entzündete sich die Nahtstelle und am Implantat musste zweimal nachoperiert werden. Der Faden verzog sich und damit das Implantat selbst.

Die Firma wartete derweil immer noch auf seine Rückkehr, aber der Einäugige konnte dazu nichts sagen, denn er wurde immer weiter krankgeschrieben. Schließlich stellten die Ärzte fest, dass man die Hornhautverkrümmung die nun vorlag nur durch Kontaktlinsen oder erneute Transplantation bezwingen könne. Da eine weitere OP auf Grund der Komplikationen weder für die Ärzte noch für den Piraten in Frage kamen, probierte er es noch einmal mit Kontaktlinsen. Aber wie zu Erwarten, gewöhnte sich der Körper nicht an die Linsen.

Inzwischen hatte die Firma dem Piraten schon zweimal den Ausschied aus der Firma angeboten, aber er wollte seine Firmenfamilie nicht verlassen. 1998 schließlich waren 2 Jahre vorüber und die Krankenkasse steuerte den Jungen aus, gleich ob eine Befähigung zum Arbeiten vorlag, oder nicht. Der junge Mann war plötzlich in einer misslichen Lage, denn die Firma sagte ihm, dass sein Arbeitsplatz bereits wegrationalisiert worden wäre und er von daher die Wahl hätte: „Entweder Sie nehmen unsere Abfindung an, oder wir setzten Sie an einen Arbeitsplatz an dem Sie mit Sicherheit versagen werden! Und dann wird es keine Abfindung geben!“

Traurig willigte der Einäugige ein, denn er wusste dass man ihm keine Chance ließ. Eine Chance ließ ihm auch das Arbeitsamt nicht, denn dort hatte man Vorschriften für Abfindungen, so kam erst einmal die unabwendbare Sperrzeit von 3 Monaten.

Gemäß seines Augenlichtes und seines ebenfalls angeschlagenen Gehörs versuchte der Mann nun einen Behindertenstatus zu bekommen. Dieser Antrag wurde abgelehnt, denn der Mann müsse auf einem Auge mindestens ganz blind sein, um ausreichend behindert zu sein. Im Hintergrund schoben die BfA und das Arbeitsamt die Verantwortung für den Mann hin und her. Der Pirat hatte niemanden, der sich für seine Person zuständig fühlte.

Als Monate später endlich die Verantwortlichkeit geklärt war, bedauerte das Arbeitsamt, dass es für den Mann keine Maßnahmen der ReHa in Richtung Umschulung gäbe, da Augenge – und behinderte nur noch zum Bürokaufmann umgeschult werden würden, er diesen Beruf aber schon erlernt hätte. Andere augenschonendere Berufe gab es anscheinend nicht. Einzig machbar wäre die Verfügbarkeit von Sichthilfen an einem vertraglich nicht begrenzten Arbeitsplatz.

Ein zusätzliches finanzielles Dilemma ergab sich aus der Tatsache, dass der Einäugige schon die letzten 2 Jahre nur Krankengeld bekam. Bei der Ausrechnung des Arbeitslosengeldes wurde nicht sein ehemaliges Gehalt herangezogen, sondern eben nur das Krankengeld. Er bekam somit nur noch einen Teil des Teils.

Wieder stand der Mann da und fühlte sich von jeglicher Hilfe verlassen, resignierte gegenüber aller Verwaltungen und Ärzten und bewarb sich schulterzuckend für alle möglichen und unmöglichen Jobs, um sich selbst wenigstens auch zu beweisen, kein Behinderter zu sein, denn schließlich behaupteten dies alle anderen Stellen.

Über die Jahre 1999 bis 2000 arbeite der Mann bei vier unterschiedlichen Zeitarbeitsfirmen. Bei allen führten die häufigen Ausfälle durch Migräne und damit in Verbindung zu sehenden Krankheiten zu einem frühen aus.

Wieder ging der Mann zum Arbeitsamt und versuchte klar zu vermitteln, dass er nicht die Schwierigkeit darin sähe einen Job zu finden, sondern diesen auf Dauer zu halten. Immer noch gab es keine Alternative als die Arbeitsmittel bei Jobfindung.

Auch die Eltern machten sich inzwischen Sorgen und rieten ihrem Piraten zu einer  selbst finanzierten Fortbildung in einen anderen Berufszweig. Der Mann sah wieder Licht am Horizont und brachte trotz aller Fehlschläge im privaten Bereich genug Energie auf, um den Kursus durchzuziehen. Im Mai 2001 hatte er sich zumindest schulisch wieder einmal durchgesetzt. Er hatte nun eine Zertifizierung zur IT-Fachkraft im Netzwerkmanagement, einem Beruf in einem Bereich in dem er schon als Jugendlicher arbeiten wollte.

Beschwingt von dem Schulerfolg bewarb sich der Pirat bei vielen Firmen, aber so richtig anbeißen wollte niemand. Das das Arbeitslosengeld nicht zum Leben reicht, hat schon seinen Zweck, das merkte auch der Einäugige immer mehr, von Monat zu Monat machte sich das finanzielle Loch bemerkbarer.

Und wieder erfragte sich der Mann, diesmal etwas bestimmter und fordernder auftretend, beim Arbeitsamt um alternative Umschulungen, Weiterbildungen oder mögliche Stellen für Augengeschädigte. Diesmal wurde ein ärztliches Gutachten erstellt, welches den Ratschlag beinhaltete ihn nicht wieder im Büro einzusetzen, sondern ihn Lagerarbeiten oder vergleichbar einfache Arbeiten zukommen zu lassen. Unzufrieden mit dem Ergebnis einigte er sich mit seinem ReHa-Berater, dass er trotzdem weiter nach einer Anstellung in dem Bereich suchen sollte, für den er nun ja gerade erst viel Geld investiert hat.

Um trotz der Arbeitssuche wenigstens ein paar Mark mehr verdienen zu können, auch um sich selbst beweisen zu können, dass er auch wirklich arbeiten könne, kein fauler Sack sei, bewarb er sich abermals bei einer Zeitarbeitsfirma und wurde zeitlich auf einen Auftrag begrenzt eingestellt.

Hätte er auch nur geahnt welche Folgen sein Versuch haben würde, niemandem auf der Tasche zu liegen, er hätte die Hände besser in den Schoß gelegt! Warum ich das hier alles schreibe? Der Pirat bin ich…

Bei allen Meldungen zur Arbeitslosigkeit hatte ich ausreichend finanzielle Mittel um den Bescheid abwarten zu können. Im Regelfall dauerte es um die 4 Wochen, bis ich dann den Bescheid hatte. Eine zumutbare Zeit, wie ich finde, schließlich wartet man auch einen Monat auf sein Gehalt.

Was für einen Tanz ich aber seit meiner letzten Arbeitsphase mitmachen musste sucht ihresgleichen. Der Arbeitsvertrag war von vorne herein auf das Weihnachtsgeschäft der Hawesko beschränkt.

Eine zweimonatige Aussetzung des Arbeitslosengeldes hat keinerlei Auswirkungen auf Höhe und Art des Anspruches. Trotzdem musste ich ab erneuter Antragsstellung von Dezember 2001 bis Anfang März warten, ehe ich einen neuen Bescheid bekam. Das bisschen mehr Geld, dass ich mir durch die Arbeit erwirtschaftet hatte, konnte die drei Monate ohne Geld natürlich nicht auffangen!

Während meiner zwei Monate Arbeit habe ich dem Amt für Wohngeld bewusst nicht Bescheid gegeben. Dies geschah nicht um mich an nicht zustehendem Geld zu bereichern, sondern aus der Notlage heraus, dass ich ohne das Geld die Miete nicht hätte ausgleichen können. Die Zeit-Arbeitgeber zahlen immer erst zur Mitte des Folgemonats. Ich war mir darüber im Klaren, das mir dieses zuviel gezahlte Geld mit dem neuen Anspruch ab wieder Arbeitsloswerdung ab Ende Dezember gegengerechnet würde. Soweit so gut. Ich will mich an niemandem bereichern und schließlich hatte ich die Leistung ja schon vorweg erhalten.

Zur Neuberechnung des Wohngeldes allerdings bräuchte das Amt den Bescheid des Arbeitsamtes. Da dieser nicht vorlag konnte weder eine Gegenrechnung noch eine Wiederaufnahme des Wohngeldes stattfinden.

Ende Februar 2002 passierte das Erhoffte. Ich hatte endlich ein Bewerbungsgespräch. Allerdings genügte mein Abschluss nicht den Erwartungen des Unternehmens. Aber Sie vermittelten mich weiter an eine Tochterfirma, die gerade im Aufbau eines neuen Konzeptes stand. Allerdings erforderte die Arbeit von mir, dass ich mich Selbstständig machen müsse.

Ich ließ mich beim Arbeitsamt bezüglich Überbrückungsgeld beraten und nahm auch den rat an, das Konzept und den Partnervertrag durch einen unparteiischen Sachverständigen, z.B. der IHK prüfen zu lassen. Mein Arbeitsvermittler war aber nicht bereit mir den Blankoantrag auszuhändigen, ehe er keine definitive Aussage machen könne, wann ich meine Tätigkeit aufnehmen würde.

Bei der IHK konnte man ohne den Antrag auf Überbrückungsgeld allerdings wenig anfangen. Also ging ich erneut zum Arbeitsamt und einigte mich mit dem Vermittler auf einen Starttermin meiner Selbstständigkeit und bekam dann auch den Antrag, ein relativ unbedeutendes leeres Papier aus dem weder Anspruch noch sonst irgendetwas Rechtliches hervorging. Aber hierzu musste ich mich schon mal selbstständig melden. Mein Anspruch auf Arbeitslosengeld erlosch somit zum 18.03.2002.

Um mein privates Konto nicht zu belasten, wollte ich ein gesondertes Geschäftskonto einrichten. Der Sachbearbeiter wies mich auf die unnötigen Mehrkosten eines Sonderkontos hin und meinte, dass ich dies als Vollkaufmann nicht bräuchte. Er stellte darauf hin mein Girokonto auf geschäftlich um und strich mir dabei auch gleich meinen Dispo, den ich bis dahin leider schon fast jeden Monat voll ausschöpfen musste. Das war mir zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht bewusst und sollte mir wenig später eine neue Überraschung bescheren.

Nachdem ich der IHK den Antrag zugestellt hatte, brauchte diese unerwartet lange für die Prüfung. Einerseits war ich froh darüber, denn der Prüfer hatte Fragen an den Franchise-Partner auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Allerdings verzögerte sich der Vorgang durch diesen Prozess um weitere Wochen, so dass der Antrag seitens der IHK erst Anfang April zurück ans Arbeitsamt geschickt wurde.

Mein Franchisepartner war seit der Vertragsunterzeichnung Ende Februar darum bemüht eine Bank zu finden, die mein Unternehmen finanziert. Allerdings hatten sie es bis Anfang April immer noch nicht geschafft. Obwohl ich schon im Vorwege gesagt hatte, dass ich keine Aussicht auf Erfolg bei meiner Hausbank sähe, ließ ich mich dazu überreden, doch einen Versuch zu starten.

Um die Finanzierungssumme so gering wie möglich zu halten, rechneten meine Franchisegeber den Businessplan erneut durch und kamen von den zuerst benötigten 16.000 Euro auf sogar nur 12.000 Euro, da wir auf viele eigentlich ab der ersten Stunde gedachten Anschaffungen erst einmal verzichten wollten. Die Bank gab zu verstehen, dass an einem Unternehmen mit einem Kapitalbedarf von unter 50.000 Euro nichts zu verdienen sei und sie daher eine Finanzierung ablehne.

Erst jetzt fiel mir auf, dass mir der Dispo fehlte. Gegen Ende des gleichen Monats war mein Bescheid für Dezember auch endlich da. Das Geld reichte gerade so für den Ausgleich meines Bankkontos. Als ich neue Überweisungen abgeben wollte, fragte man mich, wann der Ausgleich stattfinden würde.

Mein Bankmann wies mich darauf hin, dass der Dispo ein Vorschuss auf zu erwartendes Gehalt sei, ich als Selbstständiger aber ja über kein Gehalt verfüge. Einen Betriebsmittelkredit könne er allerdings nur gegen Vorlage der Bilanzen aus mindestens drei Vorjahren bearbeiten. Mit einem freundlichen Lächeln verabschiedete er mich. Ich habe mir bei meiner Hausbank nie etwas zu Schulden kommen lassen, habe in den Jahren zwei Kredite brav abbezahlt, zwei Baussparverträge über sie abgeschlossen, habe das Konto schon seit über fünfzehn Jahren. Aber all dies zählte jetzt nichts, man ließ mich hängen!

Ich hatte sehr viel Hoffnung in die Selbstständigkeit gelegt! Aber der Traum zerplatzte, bevor ich überhaupt die Gelegenheit bekam mitzumischen. Ich konnte mangels Masse keine Werbung schalten, geschweige denn sonst irgendwelchen privaten oder geschäftlichen Zahlungsverpflichtungen nachkommen. Aufträge blieben mangels der Werbung natürlich aus.

Seitens des Arbeitsamtes kam bis zuletzt keine Stellungnahme zum Überbrückungsgeld, sondern nur die lapidare Auskunft der Antrag sei in Bearbeitung, wie lange noch könne man nicht sagen. Das letzte Bargeld das ich zu sehen bekam war Ende Januar, als ich meine letzte Gehaltzahlung bekam. Bis Mitte Februar konnte ich meine Küchenvorräte aufbrauchen. Seither überlebe ich von dem, was mir Freunde und Verwandte stellen. Dennoch stellt sich die Frage der Ernährung seit Mitte März täglich neu.

Ich hatte noch nicht aufgegeben, aber mein Hunger und die Gesamtsituation, die hier hoffe ich auch klar wird, machten mich täglich etwas missmutiger und zittriger. Als ich dann endlich einen Auftrag hatte, war ich derart unter Leistungsdruck, dass ich am einfachsten Problem scheiterte. Ich konnte dem Kunden unmöglich meine Ohnmacht in Rechnung stellen und zog mich zurück.

Auch wenn mir meine Franchise-Partner sehr entgegen kamen, war ich mir bewusst darüber, dass sie irgendwann auch ihre zurückgestellten Forderungen gegen mich haben wollten. Selbst wenn eine Finanzierung Ende April noch möglich gewesen wäre, hätten die ausstehenden Monate Franchisegebühr den Kredit fast vollständig verschlungen. Für Werbung und die künftigen Monate wäre nichts mehr übrig. Aus Hunger und Frust heraus meldete ich mich Mitte April wieder arbeitslos, gab mein Gewerbe auf und informierte meine Partner.

Diese verstanden mein Problem und lösten zu Ende April den Vertrag mit mir und erließen mir alle Verbindlichkeiten mit Ausnahme meines Materialverbrauchs. Dies erspart mir immerhin zusätzliche 11.500 € Schulden. Trotzdem bleiben mir immer noch offene Rechnungen und Mieten im Wert von 2.800 €. Bargeld ist seit Februar, wie beschrieben, keines mehr geflossen.

n meiner Not ließ ich mich bei der Diakonie beraten und versuchte nun vom Arbeitsamt eine Bestätigung für das Sozialamt geben zu lassen. Mit dem Ausdruck begab ich mich zum Sozialamt um dort einen Vorschuss zur Überbrückung zu bekommen..

Nach Prüfung meiner Vermögenswerte kam man zu dem Schluss, dass ich zu vermögend sei, um Anspruch zu haben. Ich hätte noch zwei Kapitalversicherungen die über dem Satz liegen. Ich müsse diese auflösen und verleben, bevor ich Anrecht auf Sozialhilfe hätte. Ich könne auch die Versicherungen nutzen, um mir einen kurzfristigen Kredit von meiner Bank geben zu lassen.

Ich hatte den Jugendschutzbrief 1988 mit dem Endalter passend zur Rente abgeschlossen, als Vorsorge die damals schon abzusehen war. Der Rentenfond kam 1995 hinzu, da ich auf Grund meiner Gesundheit die Kapitalversicherung nicht mehr erhöhen konnte. Seit nunmehr drei Jahren liegen beide Verträge brach und ich bezahle schon nur noch einen monatlichen Minderbetrag, um das angesparte Geld nicht zu verlieren. Aber resigniert über die Situation forderte ich meine Versicherung auf die Verträge aufzulösen, bzw. mir eine Alternative zu nennen.

Die Versicherung beriet mich dahingehend, dass die Arbeitsämter und Sozialämter angehalten sind, nicht an die Altersvorsorgen der Bedürftigen zu gehen. Die Gründe dafür liegen klar, schließlich züchteten sich damit die Ämter nur noch mehr Anspruch fürs Alter, obwohl die Renten aus der Versicherung einen großen Teil abdecken könnten für den der Staat nicht aufkommen müsse. Sie faxten mir auch noch entsprechende Gerichtsurteile und  Zeitungsberichte.

Mit neuem Mut ging ich zum Amt, aber da wiederholte man die Aussage, dass ich über dem Satz läge und das die Versicherung nicht über die Bewilligung von Sozialgeld entscheiden könne. Natürlich hat die Sachbearbeiterin des Amtes da Recht, dennoch habe ich damit immer noch keine brauchbare Hilfe bekommen.

Zum Abschluss des Gespräches sagte mir die Beamtin dann aber noch, dass auch das Arbeitsamt Vorschussverpflichtet sei, wenn ein Antrag länger in Bearbeitung bliebe. Also ging ich wieder zurück zum Arbeitsamt, inzwischen mit einer geballten Wut im Bauch.

Des weiteren wollte ich eine Verlängerung für die Aufhebung der GEZ-Gebühren und mich auch um das Wohngeld kümmern, damit wenigstens ein wenig Entlastung da wäre, aber für beide Stellen benötigte ich ebenfalls den Bescheid des Arbeitsamtes, der ja immer noch nicht vorlag. So drehte ich mich also wieder im Kreis und ging wieder zurück zum Arbeitsamt.

Ich sagte der Beamtin des Arbeitsamtes das mich das Sozialamt zurück verwiesen hätte und ich mir auch vom Arbeitsamt einen Vorschuss geben lassen könne. Aus ihren Unterlagen konnte sie entnehmen, dass mein Antrag auf Arbeitslosengeld erst von Mitte April war und sie könne mich auf Grund dessen nicht bevorzugen, da die Wartezeit für den Bescheid derzeit (immer noch!!) bei 3 Monaten läge und andere auch auf ihr Geld warten würden. Für den Anspruch aus dem Antrag auf Überbrückungsgeld sei sie nicht zuständig, da es Angelegenheit der Arbeitsvermittlung sei, eine Entscheidung sei nicht im System und die Vermittlung sei an dem Tage auch nicht mehr zu erreichen. Sie wolle aber in der nächsten Woche beim Sozialamt anrufen und versuchen eine Klärung zu erzielen, so dass ich mir ggf. am Dienstag der Folgewoche einen Scheck abholen könne.

Trotz diesem anscheinlichen Einsehen ahne ich, welche Summe dieser Scheck allenfalls deckt. Er wird maximal die Zeit abdecken seit der erneuten Arbeitslosmeldung. Inzwischen ist Anfang Mai und ich bin schon zwei Monatsmieten im Rückstand, der Kühlschrank ist seit Ende Februar leer und ich hätte mich schon längst intensiver um Arbeit kümmern können, wenn ich nicht seit Monaten wie ein Spielball erfolglos zwischen den Ämtern hin- und herlaufen müsste, ja – überhaupt die nötigsten Mittel dazu hätte mich bei Firmen zu bewerben.

Ich habe mich all die Jahre dagegen gewehrt soziale Gelder in Anspruch nehmen zu müssen. Ich habe mir auch in den Jahren in denen ich gearbeitet habe keinen richtigen Urlaub geleistet, kaum Geld in Garderobe gesteckt, allerhöchstens mal in die Reparatur des unerlässlichen Pkws. Inzwischen steht selbst dieser still, da ich mir den nötigen Ölwechsel und die Versicherung erst recht nicht mehr leisten kann. Wohnte ich in einer Metropole wie Hamburg wäre der Verlust des Pkws sicherlich versschmerzlich aber ich versuche hier am „Üterst End“ zu überleben. Aber auch der Verkauf des Pkws selbst würde keine Lücke schließen, da er schon über 11 Jahre alt ist und diverse Schönheitsmacken hat.

Meine Klamotten lösen sich immer weiter auf, ich habe kaum noch etwas was mir passt, lebe seit über zwei Monaten von Almosen, habe nicht einmal mehr das absolut Lebensnotwendigste und soll nun auch noch die Altersvorsorge und zwangsläufig mein Fortbewegungsmittel aufgeben, da ich dadurch zu vermögend bin. Der Rückkauf der Versicherungen würde die aufgelaufenen Schulden tilgen und mich vielleicht sogar noch einen Monat länger über Wasser halten. Aber spätestens dann müsste ich mich beim Sozialamt erneut anstellen.

Warum ich das hier alles aufschreibe? Nun, mit Sicherheit nicht, um Ihnen etwas vorzuweinen, meiner Einstellung entsprechend weine ich nicht, sondern versuche es nur noch mit Humor zu nehmen, auch wenn es inzwischen ein sehr kaltes Lächeln geworden ist. Aufgrund meiner Ratlosigkeit stand ich die Jahre schon des Öfteren am Balkon, habe mich aber nicht getraut zu springen. Irgendwo hänge ich schon noch am Leben und denke, dass es auch diesmal einen besseren Weg geben muss. Aber wenn ich mir meine Entwicklung, meine letzten Einbrüche so beschaue, habe ich immer mehr Angst davor, nicht mir, sondern anderen, die im Grunde nur ihre Pflicht erfüllen, nach Handbuch arbeiten, oder vielleicht auch gar nichts mit mir zu tun haben, körperlich anzugreifen. Ich gehe schon mit Wut durch die Fußgängerzone und bin kurz vorm Platzen, wenn Leute ausgelassen Lachen, gleich ob sie mich meinen oder, was natürlich eher wahrscheinlich ist, einfach nur so lachen. Ich sehe mich zunehmend als eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Noch habe ich es immer geschafft mich trotzdem zu beherrschen, aber ich weiß nicht mehr wie lange ich dies noch kann, ob mir dann noch Gelegenheit bleibt etwas schriftlich niederzulegen, wie ich es hiermit getan habe.

All die Jahre nach meiner Hauptschulzeit habe ich versucht meinen zügellosen Zorn in den Griff zu bekommen und bin in den Jahren danach so ruhig geworden, dass Freunde und Bekannte schon den Kopf davor schüttelten, wie ich immer so ruhig bleiben konnte, egal was mir passierte. Aber ich kann nicht mehr! Wenn mir heute jemand den roten Knopf in die Hand geben würde, ich würde ihn drücken. Ich hatte noch ein klein wenig Stolz in meinen Adern, aber dieser liegt in Scherben!

Ja, ja, ich weiß Sie sind nicht schuld! Er ist nicht schuld und der dort tat ebenso wie die andere dort drüben auch nur ihre Pflicht. Niemand ist schuld! Trotzdem treibt mich dieses Heer der Unschuldigen an den Rand des Wahns. Noch sind da eben jene Freunde, die mich immer wieder aufzubauen versuchen und meinen, dass ich härter durchgreifen solle, meine Rechte einzufordern. Doch langsam wissen selbst jene Freunde nicht mehr was sie mir noch raten sollen, wenn ich ihnen erzähle, was aus meinen Bemühungen geworden ist. Das Achselzucken wird auch bei ihnen immer größer. Ich habe wirklich Angst diese letzte Schwelle zu übertreten, aber woher weiß ich, dass mich die Angst auch morgen noch zurückhält? Ich weiß es nicht!!!

Kay Fiedler

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.