Der Juwelendieb

New York, im Sommer 1979/80. Tom, ein sechszehnjähriger Junge, der im Zentrum der Stadt wohnt, erzählt eine Geschichte, die er vor zwei Jahren erlebt hatte:

Es war genau am 6.6.77,-Meine Eltern und ich wohnten damals in einer Wohnung in der Nähe des Hafens. Auf dem Weg zur Schule bemerkte ich, daß zu dieser frühen Stunde schon ein alter Mann am Ufer saß und angelte. Dies war nicht weiter ungewöhnlich. Nur die Art, wie er es tat, war wunderlich. Er nahm die Rute immer wieder ein Stück weiter aus dem Wasser heraus, und senkte sie dann wieder. „So fängt der Mann bestimmt nichts“, dachte ich und ging weiter.

Die Zeit verging, und als ich auf dem Weg nach Hause war, bemerkte ich, daß der alte Mann noch immer am Ufer saß. Er schwenkte nach wie vor seine Angel auf und nieder. Da ich gerade Zeit hatte, setzte ich mich neben ihn und sah ihn mir genauer an. Er trug einen alten zerknitterten Anzug, der genau so alt zu sein schien wie er selbst. Ich wollte gerade wieder aufstehen und heimwärts gehen, als der Alte anfing zu reden. Er sprach viel wirres Zeug, von dem ich zuerst nur wenig begriff. Aber dann wurden mir seine Worte immer klarer. Ich merkte aber auch, daß er nicht mit mir sprach, er sprach himmelwärts.

Er sagte, daß er vor vielen Jahren an einem Juwelenraub beteiligt war. Er war mit ein paar Banditen verbündet, die ihm von Zeit zu Zeit größere Mengen Diamanten und andere Edelsteine anboten. Er war zu der Zeit ein schwerer Hehler, der viel verkaufte, dem aber nie etwas nachgewiesen werden konnte. Aber irgendwann flog der ganze Ring auf. Die Räuber packten aus, worauf eine Hetzjagd auf den damals noch jungen Mann folgte. Er floh vor der Polizei in den Hafen.

Und dann, seine Stimme stockte, erschoss er aus Verzweiflung einen Wachmann, der zufällig den selben Weg kam. Kurz bevor die Polizei den, nun durch seinen Mord völlig verstörten Hehler ergriff, schaffte er es noch, die letzte Juwelenlieferung zu verstecken. Die Steine waren in einer Kassette, die er in einen Karton legte und in ein Stück Netz wickelte. Dieses Paket warf er in das Wasser. Er versuchte, sich die Stelle zu merken, und lief weiter. Weit kam er nicht. Ein Streifenwagen spürte ihn auf und nahm ihn ohne weiteren Widerstand fest. Er bekam zwanzig Jahre wegen Hehlerei, vierzig wegen Mordes. Die Polizei versuchte zwar mit allen Mitteln rauszubekommen, wo er die Beute versteckt hatte, kriegten aber nichts aus ihm heraus.

Im Zuchthaus hatte er keine Freunde. Er fühlte sich zerschlagen und machte sich Selbstvorwürfe, seit er den Wachmann niederschoß. Er freute sich über nichts mehr, wich allen aus und hatte sich das Ansehen eines Griesgrams angeeignet. Kein Lächeln kam über seine Lippen, kein bißchen, einfach nichts, über sechzig Jahre hinweg.

Nun erzählte er, daß er gestern entlassen wurde; mit 85 Jahren. Nun suchte er die Stelle, an der das Paket lag. Hier endete die Erzählung des alten Mannes. Ich hatte das Gefühl, als würden ihm Tränen über sein Gesicht laufen. Doch plötzlich wurde er gespannter, ich sah, wie er versuchte, die Angel hochzuziehen. Ich ging ihm zur Hand und half ihm zu ziehen. Ich merkte, wie er zitterte.

Es war ein altes schon stark vom Wasser angegriffenes Paket. Er bat mich, das Paket zu öffnen. Ich tat es. Ich war selbst gespannt, ob es „das“ Paket war. Tatsächlich: In dem Paket war eine große Kassette. In der waren vielerlei bunte Steine. Der alte Mann nahm die Kassette entgegen, beschaute sie sich und sank mit den Steinen zu Boden.

Er atmete schwer. Er schob mir die Edelsteine herüber und nannte mir einen Namen. Den Namen des Wachmannes. Ich sollte die Angehörigen von dem Wachmann finden und ihnen diese Steine überbringen. der Mann sagte mir noch einige Worte, die ich den Angehörigen des Wachmannes ebenfalls übermitteln sollte. Es waren Worte der flehenden Reue und Buße.

Dann wurde es still um uns. der alte Mann bewegte sich nicht mehr. Er war tot.

Aber er lächelte. Er lächelte zum ersten Mal seit sechzig Jahren.

E N D E

Diese kleine Geschichte schrieb ich im Alter von 14 Jahren. Sie regt dazu an, über Wertbegriffe wie Würde und Geld einmal nachzudenken. Fraglich bleibt bei dieser Geschichte auch, ob man selbst auch diesen Weg gewählt hätte, um seinen Seelenfrieden wiederzufinden. Für den alten Mann und seine Wertvorstellungen, erschien „dieser“ nach all den Jahren immer noch als die einzig würdige für den toten Wachmann. Mehr noch, die Erfüllung dieser Vorstellung war sein letzter Lebenswille. Was nun letztendlich mit den Diamanten geschah ist für den alten Mann und damit für die Geschichte, ohne belang.

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