Schach!!

Fussbodenschach

Foto zur Kurzgeschichte „Schach!!“

Ich schaue mich im Stadtpark um. Wiesen voller geschäftiger Nichtstuer. Zwischen den Bäumen tollen Kinder. Eine Frau vertieft sich in ihren Roman, während ihr Begleiter den Einweggrill anfacht. Sommer! Die Schwüle lässt erahnen, dass dieser Tag wieder mit durchgeschwitzten Bettlaken enden wird.

Ich sehe auf die Gruppe von Boccia-Spielern, wie ich sie sonst nur in Frankreich und Italien antreffe. Nur das dort das Spiel bei einem guten Wein oder Schnaps zelebriert wird, ein Volksspiel. Man lässt sich Zeit und beredet die Tagesgeschehen zwischen einem edlen Tropfen und einem guten Wurf.

Diese Gruppe spielt lediglich das Spiel gemäß der Spielanleitung, die bei den bunten Plastikkugeln dabei war. Plastik und Dosenbier! Als nächstes werden sie sich eine Boccia-App auf ihre Smartphones herunterladen und sich gegenseitig mit der Cola-App zuprosten ohne ihre mit Decken markierten Rastplätze und Picknickkörbe zu verlassen.

Ein Schwarm Vögel schmiegt sich in der feinen Bö zwischen den Bäumen und erfreut mich mit ihrem Lied. Ihre Schatten wandern wild auf der Wiese umher und verfolgen ihre Piepser. Zwei Teenager schauen kurz von ihren Plätzen auf und stellen ihre MP3-Player lauter. Sommer! Ich liebe es!

Zwei Kinder haben ihre Wasserpistolen dabei und verfolgen einander quer über alle Decken. Mancher schaut gestört drein, lässt die Kinder jedoch gestatten. Der Duft der Wiese vermengt sich mit Schweiß, Grillfleisch und Sonnencreme und ich weiß die Zeit ist reif.

Es ist der richtige Tag für eine gute Partie Schach. Dort sitzen sie, geschützt durch die Bäume. Geschützt vor den Blicken der Anderen, geschützt vor dem lauwarmen Sommerwind und der brütenden direkten Sonne.

An einem der vier Schachtische sitzt ein Pärchen und missbraucht  den Tisch für ein Picknick. Sie werden geduldet, da sie sich ruhig dabei verhalten. An zwei anderen Tischen wird emsig an Strategien getüftelt, während der letzte Tisch auf Spieler wartet. Sommer! Hier findet er statt.

In der Mitte der Schachtische wurde ein größeres Schachfeld auf dem Boden angelegt. Hier findet das eigentlich interessante Spiel des Tages statt, welchem auch ich mich heute widmen möchte.

Ich schaue mir die beiden Spieler am Fussbodenschach genauer an. Wilfried hat ein vom Wetter und Zeit gezeichnetes Gesicht. Man sieht ihm den versierten Schachspieler an. Er hat das Spiel zu einer ihm eigenen Kunst entwickelt, plant seine und die gegnerischen Züge bereits auf fünf Züge im Voraus, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Er kennt seinen Gegner nicht wirklich und streng genommen ist er ihm auch egal. Wilfried ist Jahre zur See gefahren und der einzig verlässliche Freund war sein Spiel. Keiner kennt es so gut wie er. Auch jetzt als Rentner würde er niemanden mehr als Freund bezeichnen, mehr als sein Spiel.

Wilfrieds Gegner ist heute Guiness. Zumindest steht das groß auf seiner Umhängetasche, die achtlos am Spielfeldrand liegt. Aus ihr könnte Guiness im Minuten-Takt das Klingeln seines Telefons vernehmen, wenn er nicht so wahnsinnig konzentriert wäre. Wilfried machte ihm bereits mit den ersten beiden Zügen klar, dass er es mit einem Profi zu tun hätte. Seine Eröffnung nach Kasparov 1985 in der Ukraine hatte Wilfried gekontert und zu seinem Vorteil genutzt. Welche Strategie verfolgte Wilfried? Guiness lässt in Gedanken alle ihm bekannten Schachmeister und Partien der letzten Jahrzehnte im Schnelldurchlauf an sich vorüberziehen bevor er nach etwa gefühlten drei Minuten einen der großen Bauern ein Feld vorrückt. Guiness geht zu der abseits am Boden abgestellten Uhr und haut ihr auf den Kopf.

Ein vernehmliches ‘Klink‘ macht Wilfried bewusst, dass er nunmehr am Zuge ist. Er verschwendet kaum Zeit, sondern geht gezielt auf seinen Springer zu und verbaut dem Bauern jegliches weitere vorrücken. Mit der Gemächlichkeit sich die Ruhe verdient zu haben geht Wilfried ebenfalls zur Uhr und lässt ein ’Klink‘ in die Sommerluft entfleuchen.

An einem der anderen Tische schaut einer der Spieler einen Moment zu dem großen Schachplatz. Sein Gegner nutzt diese Unachtsamkeit für einen zweiten Zug. Aber um dieses Spiel geht es mir heute nicht.

Da Guiness in seinem Repertoire an Spielen keine gängige Strategie finden kann, versucht er jetzt etwas nahezu Auswegloses. Er versucht den Blick mit Wilfried zu kreuzen und ihm seinen nächsten Zug an den Augen abzulesen. Unter den wuschigen ergrauten Augenbrauen starrt Guiness auf blaugrauen Stahl. Keine Regung, kein Zucken.

Wilfried kommt der Aufforderung nur Unwillig nach. Er ringt sich ein Lächeln ab und sagt: „Sie sind am Zug, Herr …?“

„Jepsen! Jan Jepsen“, antwortet Guiness, nun vollkommen aus seiner Konzentration gerissen. „Ich bin Wilfied Schmidt! Sie sollten sich mehr auf das Spiel an sich konzentrieren und nicht auf Nebensächlichkeiten. Dann haben wir beide mehr davon!“ Wilfried sagte es und verstummt, als hätte er Guiness ausreichend ermahnt ihn nicht weiter anzustarren.

Jan  nutzt die Unterbrechung, um sein Telefon aus der Guiness-Tasche zu nehmen. Drei Anrufe in Abwesenheit, alle von der gleichen Nummer. Nein! Im Rechenzentrum mussten sie es auch einmal ohne ihn schaffen. Und er hat extra noch gesagt sie sollten ihn nur im Notfall stören. Ein wirklicher Notfall, nicht etwa ein verlegtes Passwort, eine unauffindbare Datei, niemand anders im Betrieb, der es so gut ausbügeln könne wie Janus Jepsen, Herr der IT. Jan heißt eigentlich Janus, aber er konnte sich noch nie mit dem Namen anfreunden. Zudem geht es Wilfried nichts an, wie er wirklich hieße.

Freie Tage waren für Janus selten und dieser war stellvertretend für einen ganzen Jahresabschnitt, im Volksmund Sommer genannt. Jan überlegt eine Sekunde lang, ob er das Smartphone nicht ganz abschalten solle, aber dann wäre er ja für niemanden mehr erreichbar. Er begnügte sich mit einem resignierten Wurf zurück in die Tasche.

Janus sank gerade in die Spielstrategie zurück als ein erneutes aufflackern seines selbst erstellten Klingeltones aus dem schneller gepitchten Elvisklassiker ‚Muss-i-denn‘ bestand, Janus wieder zum auftauchen zwang. Janus greift das Mobile wie einen Wurfknochen und bellt hinein: „Ja, Jepsen! Was ist denn?“

Während Wilfried tief durchatmend die Uhr auf Pause stellt, hört Janus sich das Problem seiner Stellvertretung an. Janus nutzt die Gelegenheit sich umzusehen. Das Picknick am Schachtisch scheint beendet zu sein. Der Tisch ist leer und leere Einwegverpackungen lassen keinen Zweifel an dem Missbrauch. Wenn solche Leute wenigstens danach aufräumen würden.

Die Bauern sind vom Feld.

Janus schaut an einen der anderen Tische. Einer der Spieler macht eine sich Ruhe ausbittende Geste zu Janus. Aber Janus lässt sich dadurch nicht von einer lauten Antwort in seinen Rufknochen abbringen: „Micha! Was ist in deinem Dafürhalten ein Notfall? Du hast die Liste mit allen Passworten unter der Schreibtischmatte kleben! Ich hab es dir schon x Mal gesagt, was ich davon halte, allein schon wegen der innerbetrieblichen Sicherheit! Ach egal…, schau in deine Liste und lass mich hier in Ruhe! Ich… was?“ Micha versucht nun seine Entscheidung zu rechtfertigen und Janus hört entspannter zu als er sieht, dass Wilfried die Zeit angehalten hat.

Wieder schaut Janus sich um. Er erfasst das Spielfeld kurz abwägend, das alles in Ordnung ist. Die beiden Kinder mit ihren Wasserpistolen werden von einem wutentbrannten Teenager verfolgt. Alle drei streifen kurz das Spielfeld von Janus und Wilfried. Der Teenie flucht laut, während die Kinder in sicherem Abstand immer wieder kurz um sich spritzen. Laut lachend und fluchend entfernen sich die Wasserspeier und ihr Verfolger wieder durch die Bäume.

Der Blick Janus folgt den dreien zwischen die Bäume hindurch auf die Wiese. Die Bocciaspieler sind fort. Überhaupt scheint es leerer geworden zu sein. Ist es schon so spät? Ein flüchtiger Blick zur Armbanduhr offenbart, dass sich viele zurückgezogen haben dürften.

Es ist WM-Jahr und heute gibt es sicher noch ein wichtiges Spiel. Spielen wir heute nicht gegen…? Janus hört nicht auf Michas Entschuldigung und wendet sich an Wilfried. „Gegen wen spielen wir heute in der WM?“

Wilfieds Antwort besteht aus einem Achselzucken. Nicht nur, dass er es nicht weiß, es ist ihm auch egal solange sein Spiel nicht geschlagen ist. Und sein Gegner zeigt Abwesenheit. Sowas kann ein ganzes Spiel ruinieren.

Weitere Bauern sind vom Feld!

Die Schwüle ist kaum mehr auszuhalten. Selbst Wilfried muss sich jetzt den Schweiß von der Stirn wischen. Als er erkennt, dass das Spiel am Telefon erst entschieden werden muss, lässt er den Blick ebenfalls ein wenig schweifen.

„…Du weißt, wie ich dazu stehe!“, hört Wilfried den erneuten Zug seines Gegners ins Telefon kläffen. Ein warmer Föhn zieht durch die Bäume. Eine leere PVC-Flasche rollt vor mir her in Wilfrieds Blickfeld. Wilfried schaut mich jetzt direkt an, so wie in all den Jahren auf See – unerbittlich, kühl. Aber heute ist ein guter Tag für eine gute Partie Schach! Ich werde heute gewinnen, soviel ist sicher!

„…Ja, okay! Jetzt ist es eh zu spät. Herzlichen Dank, Michael! Wir reden Montag darüber! Was? … Ja schönen Feierabend! Leg dich wieder hin! Tschüss!“. Janus beendet seinen Zug mit der Akzeptanz des Schachmatt mit Michael indem er sein Smarty in den Beutel zurückwirft.

Springer schlägt Turm!

„Ups! Da braut sich was zusammen“, lässt sich Janus hören, als er mich entdeckt. „Zurück zu unserer Partie, Herr Schmidt!“. „Sie sind immer noch am Zug“, lautet die Antwort Wilfrieds, als er den Pausenhaken von der Uhr löst.

Jan Janus ´Guiness´ Jepsen taucht schnell aber bestimmt zurück in sein Schachspiel. Er sucht nach einer Möglichkeit Wilfrieds Springer zu umgehen ohne seinen Bauern opfern zu müssen. Er überlegt: „Vielleicht…“

„Ja, das könnte funktionieren. Diesen Spielzug aus dem Jahre 1965 zwischen dem Weltmeister und seinem damals noch jungen Schachschüler Endo… Erzo… ach wie hieß der doch gleich noch? Nun, egal – jedenfalls war die Partie nur von einem Beobachter notiert worden, der es erst letztes Jahr auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hatte. Wilfried machte nicht den Eindruck, als kenne er das Internet. Er kann das Spiel unmöglich kennen.“ Mit sich zufrieden, geht Janus zu seinem Springer und bringt den Springer Wilfrieds seinerseits in Bredouille. Jetzt erst wieder voll im Spiel, geht Janus siegesgewiss auf die Uhr zu.

‚Klink‘.

In der Entfernung hört man ein „Ach Menno“ aus zwei Kehlen gleichzeitig. „Schluss!“ ruft eine weibliche Stimme. „Ihr packt die Spritzen jetzt weg und räumt hier auf! Ihr spinnt ja wohl! Wir gehen!“ Nach ein wenig rebellischem Aufbegehren und ebenso bestimmten Antworten wurde es deutlich stiller auf der Wiese, als die Kinder weiter unter Protest die Wiese verließen. Wilfried genießt kurz die neuerliche Ruhe, ehe er seinen Zug ausführt.

Königin schlägt zwei Springer. Geht nicht? Geht wohl!

Wilfried blockt Janus Springer seinerseits mit einer Turmdeckung. Ihm war Janus Zug quasi klar. Er hatte jedoch von fünf möglichen Zügen den wohl sinnlosesten versucht. Seinen Berechnungen nach blieben Janus nur noch drei Züge bis zum finalen Aus. Ein Schlupfloch wäre da noch zu stopfen, aber das  ausgerechnet dieser Janus das Loch in der Verteidigung sehen sollte…

‚Klink‘

Janus ließ alle Strategien fallen. Warum funktionierte Wilfried nicht? Im Schachforum hätte er jeden mit dieser Springerkombination zum Schwitzen gebracht. Und Wilfried entwaffnet den Weltmeister 1965 und vor allen Dingen Jan. Der Janus in Jan verliert nicht gerne. Nicht allein deshalb paukte er all diese Partien der alten Meister. Jan ist ein Gewinner und wenn er schon verliert, dann mit… Hups! Da war die Lücke, die er brauchte!

Wilfried muss Jan mehr Verstand zugestehen als bislang zugemutet, als Jan seinen Läufer auf die befürchtete Position setzt. Es wird also Ernst. Endlich doch noch so etwas, wie eine Herausforderung. Wilfried schaut mich kurz an, als wolle er meine Bestätigung haben. Ich schwieg zwar nicht, aber er wollte ja trotzdem nicht hören. Willi, stur wie immer.

‚Klink‘

Die Partie  am Nachbartisch wurde gerade beendet. Ich kann nicht erkennen, wer von den beiden das Spiel gemacht hat. Einer der Spieler räumte eilig die Spielsteine in eine Holzschachtel und es sah ein wenig nach Flucht aus, als der eine binnen Sekunden zwischen den Bäumen aus dem Blick der Anwesenden verschwand. Sein Gegner geht auf Wilfried zu und sagt: „Willi, alter Freund! Seh zu! Wir sehen uns im Mumienhaus. Mach den Grünschnabel weg und komm.“

Bauer schlägt Turm!

Nur noch ein Zug vom Finale! Ich hole noch einmal tief Luft und halte inne. Da merke ich, dass die Vögel nicht mehr singen. Auch der letzte Schachtisch ist nun leer. Es ist als würde die Schwüle um uns herum alles verschlucken.

„Willi, alter Freund!…“ grunzt Wilfried seinem Heimmitbewohner leise hinterher, als er sich auf seinen Zug konzentriert. „Freund! Pah! Mumienhaus! Witzbold!“, grummelt er.

Janus schaut sich um, kann mich nun auch nicht mehr übersehen. Er stellt darüber hinaus fest, dass außer Willi und ihm nur noch ich am Spielfeld sind.

Nun, ich glaube ich bin wieder am Zug.

Ich atme aus.

Eine Woge reißt die Äste der Bäume zum Bersten nahe auseinander. Letzte Wiesenhocker stürmen mit ihrer Habe vom Platz. Der kalte Platzregen peitscht so auf die Erde hernieder, dass der aufsteigende Dampf kaum gegen die Wassermassen ankommt. Kleine Hagelkörner würzen das Spektakel, als ich meinen Zug über den Schachplatz heranführe.

Wilfried lässt sich nicht beirren. Er schlägt auf die Uhr, als er seinen Zug beendet hat. Janus hat sich seinen Guinessbeutel geschnappt und hält nur noch einen Zug inne, als er auf das Spielfeld schaut. Das ‚Klink‘ erreicht ihn durch den Sturm hindurch kaum noch. Dennoch weiß er, nur noch zwei Züge…

Es reicht! Ich suche mir einen Baum ein wenig abseits und schlage darauf! „Schach!“

Janus hält den Beutel über seinen Kopf geschützt um sich vor dem Hagel zu schützen und stürmt ohne noch einen weiteren Gedanken an das Spiel in Richtung Parkplatz. Ja, verlieren tut manchmal weh.

Wilfried schaut mich wieder resignierend an. In aller Ruhe packt er seine Uhr in eine Plastiktüte. Er hat mich schon ganz anders erlebt, denkt er. Es ist doch nicht auszuhalten. Dieser Wilfried!

Ich suche mir einen dichteren Baum und schlage drauf! „Wilfried! Schach!“

Wilfried hält in seinem finalen Zug inne. Er presst die Uhr an seinen Körper und hinkt eiligst los.

Verwaiste Verpackungen, Handtücher und einige Einwegrills flogen mir kleine Pirouetten, als ich Wilfrieds König umkippte.

„Schachmatt!“

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