Mach’s gut, mein Freund

Ich erinnere mich noch gut an die Gerichtsverhandlung; An die verbitterten Gesichter der Anwesenden, ebenso wie an die Tränen meiner Verlobten. Ich erinnere mich an den donnernden Hammerschlag des Richters, als er das Urteil verkündete. Und ich erinnere mich auch an das Gesicht meines besten Freundes. Er war kreidebleich und schien einer Ohnmacht nahe. Er rechnete wohl jeden Moment damit, daß ich ihn als den wahren Schuldigen bezichtigte, um mich vor dem tötlichen Urteil zu retten.

Aber er ist mein bester Freund. Wir kennen uns fast noch aus dem Sandkasten. Viele Schwierigkeiten meisterten wir zusammen. Wir haben unbegrenztes Vertrauen zueinander.

Ich bin mir sicher, daß er seine Angst noch überwinden wird und sich freiwillig stellt. So, wie wir es uns immer geschworen hatten; Niemand soll für die Dummheiten des anderen aufkommen.

Ich sehe durch das Fenster meiner Zelle den Schnee fallen. Weihnachtslieder klingen zu mir herüber und auf dem Rodelberg, hinter der Mauer, spielen die Kinder. Sie lassen ihre Freude auf das Fest von weitem erkennen.

Möglicherweise ist es das letzte Weihnachtsfest, daß ich erleben darf. Aber ich darf die Hoffnung nicht aufgeben. Schließlich ist Weihnachten das Fest der Liebe. Das schlechte Gewissen wird meinen Freund jetzt noch mehr plagen, als bislang.

Aus der angrenzenden Gefängnisküche steigt mir der Duft von frischem Backwerk in die Nase. Wie schön wäre es, heute mit ihm und unseren Familien zusammen feiern zu können. Mit einer großen Pute, und einer Bescherung für seine Kinder. Es ist immer wieder schön, den Kleinen beim Auspacken zuzusehen.

Aber so, wie früher, wird es wohl nie wieder sein; egal was jetzt noch passiert. Diese irdische Freundschaft endet gesetzlich beschlossen zum Ende des Jahres. Auf einen von uns wartet der Sensenmann. Natürlich könnte ich Berufung einlegen lassen und mich entlasten. Doch würde ich alles aufgeben, woran ich je geglaubt habe. Der Tod könnte nicht schlimmer sein. Soll er mich doch holen, wenn es ihm gefällt. Ich bin bereit.

Was es heute wohl zum Mittag gibt? Hoffentlich etwas Besonderes zum Heiligabend. Da hör ich auch schon den Schlüssel im Schloß klappern. Hungrig wie ich bin, fällt meine Portion sicher wieder viel zu klein aus.

Nanu? Ich soll sofort mit zum Direktor kommen? Warum denn? Auf dem Weg,zum Büro des Direktors, sehe ich schon von weitem eine Wache mit einem Mann in Handschellen, die langsam in unsere Richtung kommen. Der Gefangene dort; das ist doch …

Er hat mich auch gleich erkannt und reißt sich von der Wache los. Wir umarmen uns, so gut es mit Handschellen eben geht. Tränen laufen uns beiden übers Gesicht. Als unsere Wachen uns wieder trennen und mein Freund an mir vorbeigeführt wird, höre ich wie er sagt: „Mach´s gut, mein Freund. Frohe Weihnachten, daheim!“

E N D E

Nachsatz: Diese ´Gedanken aus der Todeszelle´, sind für all Jene gedacht, für die das Wort ´Freundschaft´ mehr ist, als nur ein Wort.

(c)1991 Kay Fiedler

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