Ich und das Brötchen

Ich und das Brötchen

(Neulich an der Essensausgabe)

Ich stellte mich heute morgen, wie jeden morgen, an der Schlange zur Essensausgabe an. Ich nahm, wie üblich, ein Tablett, ein Messer, sowie einen Teller und eine Tasse. Gerade füllte ich mir meinen Teller mit Butter und Aufschnitt, als ich bemerkte, wie die Dame vor mir sich verstohlen umsah. Sie schaute schnell nach links und rechts. Dann folgte ein schneller Griff in das Brötchenfach. Ich ließ mir nicht anmerken, daß ich sie ertappt hatte und lächelte sie nur freundlich an, als sie mich bemerkte. Ich sah genau, wie sie sich zwei Vollkornbrötchen nahm. Dabei hätte sie wissen müssen, daß alle Patienten nur ein Brötchen nehmen sollten.

Nun füllte ich mir noch etwas Konfitüre auf und schob mein Tablett ans Brötchenfach. Ich griff in das Regal und fischte mir eines dieser begehrten Vollkornbrötchen heraus. Gerade wollte ich das Tablett anheben und mir einen Sitzplatz suchen, als eine Stimme mich innehalten ließ. Ich horchte noch einmal genau, und tatsächlich, diese Stimme, sie kam aus dem Regal.

Ich sah hin und traute meinen Augen nicht. Eines der Vollkornbrötchen schaute mich mit seinen Haferflockenaugen an: „Hey Du!“, sagte es. „Wie kannst Du es zulassen, mich von meinem Bruder zu trennen“, es deutete auf mein Tablett, „zu trennen?“ Ich schaute kurz zu dem mir folgenden Patienten, der sich gerade bei der Konfitüre bediente.

Doch dann lenkte ich meine Sinne wieder auf das Brötchen. Es weinte mich an: „Mehl von meinem Mehl, Wasser von meinem Wasser, Korn von meinem Korn. Wenn Du ihn verspeist, so verspeis´ auch mich!“ Ich erinnerte mich an die Brötchenordnung.

Dennoch, das Flehen des Brötchens hatte mein Herz erweicht. Konnte ich denn so grausam sein und wahrhaft sich liebende Brüder entzweien? Meine Hand zitterte leicht, als ich sie langsam in Richtung des Regals lenkte. Ich fühlte die Wärme in mir aufsteigen, die wohl meine Wangen in schuldbewußtes Rot tauchte.

War da nicht eben jemand links von mir? Verschreckt fuhr mein Kopf herum, als ich mit meiner Hand gerade zugriff und den Bruder umklammerte. Beruhigt stellte ich fest, daß es nur der Tablettwagen war, der neben mir stand. Trotzdem kam ich mir beobachtet vor.

Immer noch leicht zitternd vereinigte meine Hand die Brüder auf meinem Tablett, als ich rechts von mir die Bestätigung meiner Befürchtungen bekam. Mein Mitpatient schaute mich mit großen Augen an und schenkte mir ein verschmitztes Lächeln, ebenso wie ich meiner Vorgängerin. Hätte ich ihm die Geschichte erzählen sollen? Er hätte sie mir ja doch nicht abgenommen. Konnte ich sie schließlich selbst kaum glauben. So lächelte ich verlegen zurück, hob mein Tablett an und ging vom Tresen fort.

(c)1992 Kay Fiedler

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